Eine Stimme für die Landwirtschaft – Rückblick auf 30 Jahre EU-Beitritt mit Agnes Schierhuber

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Die ehemalige Europaabgeordnete und Bäuerin Agnes Schierhuber war eine der prägenden Stimmen beim EU-Beitritt Österreichs 1995 – und setzte sich in Brüssel über Jahrzehnte für die Interessen der Landwirtschaft ein. Im Gespräch mit uns blickt sie auf strukturelle Veränderungen, politische Kämpfe und mutige Entscheidungen zurück.

Frau Schierhuber, Sie haben den EU-Beitritt Österreichs 1995 im Parlament hautnah miterlebt. Was hat sich seither in der Landwirtschaft am stärksten verändert?
Schon in den 1970er- und 1980er-Jahren setzte ein Strukturwandel ein: Immer mehr kleine Betriebe gaben auf, die verbleibenden vergrößerten sich. Mit dem EU-Beitritt wurde dieser Trend durch die Anpassung an den Weltmarkt weiter verstärkt. Wir mussten uns von jährlich verhandelten Inlandspreisen verabschieden und uns den internationalen Preisbewegungen stellen – mit all ihren Risiken, aber auch Chancen. Eine wichtige Pufferfunktion übernahmen die neuen Ausgleichszahlungen. Gleichzeitig veränderte sich das Leben am Land grundlegend: Junge Menschen fanden neue Berufswege außerhalb der Landwirtschaft. Viele haben damit leider auch den Dörfern den Rücken gekehrt. Andererseits konnten doch auch nicht wenige dank besserer Mobilität und Bildung ihren Lebensmittelpunkt in der Region halten, auch wenn das ein Pendeln zum Arbeitsplatz nötig machte.

Welche GAP-Maßnahmen haben bäuerliche Betriebe damals besonders geprägt – gerade in Ihrer Heimatregion, dem Waldviertel?
Die Einführung der Ausgleichszahlungen war ein Meilenstein. Sie waren die finanzielle Absicherung für Betriebe, die mit Umwelt- und Qualitätsstandards produzieren. Besonders bei uns im Waldviertel waren diese Mittel entscheidend, um die Berg- und Grenzregionen zu erhalten. Das Projekt „Waldland”, das ich aktiv mitinitiiert habe, steht sinnbildlich für diese Entwicklung: Aus einer kleinen Gruppe Engagierter wurde ein Vorzeigeprojekt mit über 1.000 bäuerlichen Mitgliedsbetrieben und 200 Arbeitsplätzen. Parallel nahm die Zahl der Milchlieferant:innen deutlich ab – von 19 auf nur noch 3 in meinem Heimatdorf –, aber die Produktion pro Betrieb stieg enorm. Das zeigt: Strukturwandel ja, aber die Fläche blieb in Bewirtschaftung, das Dorf lebendig.

Österreich gilt als Vorreiter für nachhaltige Landwirtschaft. Wo fanden heimische Ideen in Brüssel besonders Gehör?
Als ich begann, im Agrarausschuss über „Nachhaltigkeit” zu sprechen, wurde ich erst belächelt. Aber wir haben nicht locker gelassen. Österreich brachte mit der ökosozialen Agrarpolitik ein ausgewogenes Modell in die Diskussion: Es verbindet Ökologie, Ökonomie und Soziales auf Augenhöhe. Bald fanden sich auch Verbündete – etwa in Irland, Italien und Finnland – und wir konnten erreichen, dass diese Konzepte in die ländliche Entwicklungsstrategie der EU aufgenommen wurden. Mit Franz Fischler als Agrarkommissar hatten wir zusätzlich einen starken Rückhalt. Heute ist das Thema Nachhaltigkeit aus keiner EU-Strategie mehr wegzudenken.

Was sind aus heutiger Sicht zentrale Learnings aus der EU-Mitgliedschaft – und gibt es Entscheidungen, die Sie heute anders bewerten würden?
Die GAP hat uns die Möglichkeit gegeben, Agrarpolitik überhaupt europäisch mitzugestalten – und dabei unsere eigene Handschrift einzubringen. Entscheidend war die Erkenntnis, dass Landwirtschaft und ländliche Entwicklung nicht getrennt gedacht werden dürfen. Denn der ländliche Raum braucht nicht nur eine starke Landwirtschaft, sondern alle Berufsgruppen und die gesellschaftliche Vielfalt. Es gab natürlich auch Entscheidungen, die ich heute kritischer sehe: etwa die Entwaldungsverordnung, die viele Betriebe vor kaum erfüllbare Anforderungen stellt, oder einzelne Regelungen im Tierschutz, die mit der bäuerlichen Praxis wenig zu tun haben. Mein Grundsatz war immer: Die Maßnahmen müssen machbar, kontrollierbar und finanzierbar sein.

Gab es in Brüssel auch Situationen, in denen Sie besonders für österreichische Anliegen kämpfen mussten?
Unsere Herausforderung war, dass viele Kolleginnen und Kollegen in Brüssel kein Verständnis für alpine Strukturen hatten. Ich habe daher gezielt Delegationen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem EU-Parlament und EU-Beamt:innen in unsere Bergregionen gebracht. Wenn man einmal sieht, wie dort Landwirtschaft betrieben wird – unter welchen Bedingungen und mit wie viel Verantwortung für Natur und Tier –, verändert das die Perspektive. Auch parteiübergreifende Allianzen waren wichtig: Ich habe dabei mit Abgeordneten aus allen EU-Ländern und allen politischen Fraktionen zusammengearbeitet. Der persönliche Austausch war oft der Schlüssel.

Unser Netzwerk-Motto 2025 lautet #MutSchafftZukunft. Welche Rolle spielte Mut in Ihrer politischen Arbeit?
Mut heißt für mich, Verantwortung zu übernehmen – wie ich es getan habe, als ich ohne Matura oder akademischen Abschluss ins Europäische Parlament gegangen bin. Dort habe ich mit Authentizität, Sachkenntnis und Dialogbereitschaft überzeugt. Ich habe eigene Expertinnen- und Experten-Hearings ins Leben gerufen, um faktenbasierte Positionen zu stärken. Und ich bin immer mit dem Anspruch angetreten, etwas zu verändern und zu verbessern. Dieser Mut zur Veränderung hat mich geprägt.

Wie beurteilen Sie die Rolle der GAP für die Lebensmittelversorgung in den letzten 30 Jahren?
Die GAP war ein starkes Instrument, um hochwertige Lebensmittelversorgung in Österreich sicherzustellen. Wir haben immer hohe Standards verfolgt – oft die höchsten in Europa. Die GAP hat uns geholfen, diese Standards zu verteidigen und gleichzeitig die regionale Produktion zu stärken. Gerade in Zeiten von Krisen oder Lieferkettenproblemen zeigt sich, wie wichtig verlässliche, regionale Versorgung ist. Unsere große Herausforderung bleibt es, diesen Weg auch in Zeiten knapper Budgets weiterzugehen und nicht auf Kosten der Qualität zu sparen.

Wie wichtig ist es, nationale Spielräume bei der GAP-Umsetzung zu nutzen?
Die GAP bietet nationalen Gestaltungsspielraum – und Österreich hat diesen stets intensiv genutzt. Maßnahmen etwa für Biodiversität, Tierwohl oder regionale Wertschöpfung sind sinnvoll, wenn sie fair gestaltet sind. Das heißt: Die Bäuerinnen und Bauern müssen für zusätzliche Leistungen auch eine entsprechende Abgeltung bekommen. Es darf keine Politik sein, die mit dem moralischen Zeigefinger kommt, sondern eine, die auf Augenhöhe mit der Praxis funktioniert. Unser Motto war immer: „Wir lassen keinen Schilling – heute keinen Cent – in Brüssel.” Und das gilt bis heute.

Nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft – wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?
Ich ziehe eine positive Bilanz. Die EU hat vieles möglich gemacht – vom freien Personenverkehr über die gemeinsame Agrarpolitik bis hin zur ländlichen Entwicklung. Wir haben uns in Europa Gehör verschafft und konnten aktiv mitgestalten. Aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Es braucht eine starke europäische Gemeinschaft – auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Gerade angesichts wachsender Radikalisierung ist es wichtiger denn je, das Friedensprojekt Europa zu stärken.

Frauen waren in der Agrarpolitik lange unterrepräsentiert. Wie haben Sie Ihre Rolle erlebt – und was braucht es für mehr weibliche Mitgestaltung?
Ich bin mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sein müssen – das war in meinem Elternhaus gelebte Realität. Landeshauptmann Andreas Maurer hat als NÖ-Bauernbundobmann schon in den 1970er Jahren die Funktionäre in den Bezirksbauernkammern dazu aufgefordert, Bäuerinnen als Funktionärinnen in die politische Arbeit einzubinden. Das hat mir damals den Weg geebnet. Heute sehe ich leider oft, dass Frauen vor politischen Funktionen zurückschrecken, weil das politische Klima und der gesellschaftliche Umgang sehr rau geworden sind. Was wir brauchen, ist eine Rückkehr zu einem respektvollen Umgang miteinander – quer durch alle Gesellschaftsgruppen – und eine Anerkennung fachlicher Kompetenz. Frauen brauchen dabei keine Sonderrolle, sondern – ebenso wie auch engagierte Männer – echte Wertschätzung für das, was sie beitragen.

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